Hochsensibel: zart besaitet

von Lilly Dippold aus CHI 04/20

Die einen tragen sie heroisch wie eine Siegesfahne vor sich her und halten sie für eine besondere Gnade, andere wiederum empfinden sie als große Bürde, versuchen ihr angestrengt Herr zu werden und sie nicht nach außen zu tragen, aus Angst, dass sie als Schwäche interpretiert wird – die Hochsensibilität. Eine Gabe? Oder doch eine Last?

 

Entgegenkommende Autofahrer warnen uns mit ihrer Lichthupe vor der Radarfalle. Was für andere Menschen Anlass für einen kameradschaftlichen Dankesgruß und einen Tritt auf die Bremse ist, lässt bei mir  schon mal die Tränen fließen. „Nah am Wasser gebaut“, das habe ich schon öfter gehört. Oder auch „Jetzt heulst du schon wieder?!“ Manchmal sind es aber auch nur verwunderte bis geringschätzige Blicke, etwa damals, als ich als einzige bei der Muttertagsfeier vor Rührung losgeheult habe, als mein Dreijähriger sein erstes Muttertagsgedicht vortrug. Das kann auch passieren, wenn ich Videos von singenden Menschen auf italienischen Balkonen sehe. Ein starkes Gefühl von Gemeinschaft reicht offenbar bei mir schon, damit sich meine Schleusen unerwartet, vor allem aber auch ungewollt, öffnen. Reflexartig, sozusagen.

Menschenansammlungen mag ich gar nicht. Ebenso wenig die Akustik, die sie erzeugen – es ist anstrengend, die vielen unterschiedlichen Geräusche zu filtern. Kopfschmerzen sind da ziemlich klar vorprogrammiert. Auch wenn ich oft spontan bin und mich gerne mit (netten) Menschen umgebe, habe ich in Ausbildungen bemerkt, dass ich länger als andere brauche, um Gelerntes zu verinnerlichen, damit es sitzt. Und nach sprudelnden Redaktionssitzungen schnappe ich heute meinen Hund und ziehe über die Felder, um mir eine Stille-Phase zu gönnen und das Erlebte zu verarbeiten. Über all das habe ich nie besonders viel nachgedacht – so bin ich eben. Punkt.

Erst als ich vor einigen Jahren Sabine Knoll kennenlernte, die sich schon lange intensiv mit dem Thema Hochsensibilität befasst, hatte ich ein erstes Aha-Erlebnis. „Ich verwende lieber den Begriff hochsensitiv“, so die Gründerin des gleichnamigen Netzwerks, das sie – selbst Betroffene – 2010 ins Leben gerufen hat. Einerseits um einen Fokus auf das Thema zu lenken, andererseits um hochsensitiven Personen (HSP) Hilfestellung zu bieten. „Hätte ich früher von meiner Veranlagung erfahren, wäre mir wohl ein Burnout erspart geblieben“, sagt sie heute. Aus den Anfängen des Vereins ist mittlerweile ein stattliches Experten-Netzwerk entstanden, das in unterschiedlichen Bereichen Unterstützung bietet, denn „die meisten Betroffenen arbeiten in irgendeiner Form mit Menschen“.

Den Begriff HSP (highly sensitive person) hat ursprünglich die kalifornische Psychologin und Psychotherapeutin Dr. Elaine Aron in den späten Neunzigern geprägt. Obgleich ihr Buch „The highly sensitive person“ heute als millionenfach verkauftes Standardwerk gilt, ist ihre These nach wie vor nicht unumstritten. „Etwa jeder fünfte Mensch ist hochsensitiv, die meisten sind sich darüber jedoch gar nicht im Klaren“, so Sabine Knoll. Und es ist gar nicht so einfach, Betroffene zu erkennen. Denn viele von ihnen sind extrovertierte Persönlichkeiten, die auf den ersten Blick ganz und gar nicht den Eindruck von gesteigerter Empfindlichkeit erwecken.

Nicht gänzlich anerkannt ist die Bezeichnung der Hochsensibilität auch, weil sie nur subjektiv messbar ist, aber wohl auch deshalb, weil etliche der einzelnen Merkmale durchaus auch auf „Nicht-HSP“ zutreffen. Eine Reihe von Fragebögen im Internet geben Gelegenheit zur Selbsteinschätzung. Wer hier jedoch eine hohe Trefferquote erzielt, spürt wohl selbst eine mehr oder weniger starke Resonanz zum Thema.

Merkmale von Hochsensibilität

Als ich zum ersten Mal die Liste der Kriterien für HSP las, wurde mir rasch einiges klar. Ich fühlte mich erleichtert, wofür ich mich früher mitunter geschämt hatte: besonders starke Empfindung bei angenehmen wie unangenehmen Erlebnissen und Energien, verstand anderes plötzlich besser, wie das Glücksgefühl bei Begegnungen von Herz zu Herz. Doch auch die Schattenseiten waren mir nur allzu gut bekannt.

Hier liegt auch eine der Zielsetzungen des Netzwerks von Sabine Knoll: „Wir wollen dazu beitragen, dass Betroffene ihre besondere Veranlagung als Gabe und nicht als Bürde erleben!“ Um das Verständnis dafür noch besser in die Gesellschaft zu tragen, wurde der WIFI-Lehrgang „Expertin/Experte für HSP“ ins Leben gerufen, der nicht nur Therapeutinnen und Therapeuten für den Umgang mit HSP ausbildet, sondern auch für hochsensitive Menschen selbst hilfreich ist.

Einige der belastenden Attribute habe ich mit den Jahren schätzen gelernt. Meine Empfindsamkeit und das Erfühlen von Unausgesprochenem ist mir auch beruflich wertvoll geworden. Ich finde es auch nicht mehr seltsam, wenn meine Begleiter/-innen nicht alles sehen und hören, was ich wahrnehme. Das beinah lebenslange Leiden beim Zahnarzt, das schon beim Betreten der Ordination seinen Anfang nahm und mit dem ersten „hysterischen Kreischen“ seiner diversen Gerätschaften seinen Höhepunkt fand, hat ein jähes Ende gefunden, als ich mich endlich traute, mich ohne Gefühl von Schwäche als extrem schmerzempfindlichen Menschen zu outen und seither entsprechendes Mitgefühl erfahre. Dabei ist mir HSP oder Nicht-HSP völlig egal – nur die Erleichterung zählt!

Es ist unser Normal

Auch Martina Klouda-Lacina war schon lange auf ihrem Weg, als sie zufällig über den Begriff der Hochsensibilität stolperte. Mit viel Feingefühl übt sie ihre Tätigkeit als Frauencoach aus und hat ihre besondere Fähigkeit der intensiven Wahrnehmung immer als sehr bereichernd in ihrem Beruf empfunden. „Wenn ich unterrichte, spüre ich genau, wo bei den Teilnehmerinnen die „Brücken“ fehlen. Das ist enorm hilfreich“, erzählt sie.

Die Resonanz, die sie einst beim Lesen eines Artikel über Hochsensitivität verspürte, war zwar erleichternd, denn das erklärte vieles, doch tiefer in die Materie einzusteigen war der zweifachen Mutter gar nicht wichtig. „Ich glaube, ich habe nur ein einziges Mal in ein Buch zum Thema hineingelesen“, winkt sie ab. Schließlich gilt: Es ist was es ist.

Dass sie sich beispielsweise in großen Einkaufszentren schnell überreizt fühlt, weil ihre sinnliche Wahrnehmung eben HSP-mäßig groß ist, nimmt sie längst mit Gelassenheit hin, verordnet sich danach einen ausgedehnten Spaziergang in der Natur und „dann ist alles wieder gut“. Wie für viele HSP sind Werte wie Freiheit und Selbstbestimmung auch für Martina besonders wichtig. Ihr Weg dorthin war steinig und hat auch sie an den Rand des Burnouts gebracht, bis sie ihre weibliche Kraft entdeckte und leben lernte. Ein Grund, weshalb sie sich beruflich ganz besonders dafür einsetzt, Frauen genau dorthin zu begleiten.


Den ganzen Artikel kannst du in CHI Ausgabe 04/20 nachlesen

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