Eltern-Kind: das unsichtbare Band

von Nicole Katzenschlager

Das Band der Bindung beginnt schon beim Embryo und das zwischenmenschliche Gefühl, wenn der Embryo Wollhaare entwickelt. Dann spüren Mütter die leichten dumpfen Klopfzeichen ihres ungeborenen Babys. Ab diesen Zeitpunkt kann die Bindung, durch streicheln, Druckerwiderung oder mit dem Embryo reden aktiviert werden.

Das Baby erkennt die Mutter am intensivsten über den Herzschlag. Genau diese Bindung ist auch nach der Geburt wichtig. Babys kommen mit einem regelrechten Schwall an Oxytocin (dem Kuschel- und Liebeshormon) auf die Welt. Die Natur hat hier Großartiges vollbracht, denn einerseits wird dadurch der Geburtsschmerz für die Mutter reduziert, andererseits regt der Geruch von Oxytocin das Behüten und die Bindung von Mutter und Vater an. Wir sind quasi schockverliebt und wollen in der Nähe des Neugeborenen sein. Das Kuschelhormon trägt Babys förmlich in die Welt und sie selbst sind voll von Liebe und bedürfen auch danach. Hautkontakt ist in den ersten Monaten ebenso wichtig, wie die Ruhe und Gelassenheit der Bezugspersonen.Kein Baby oder Kind schreit nächtens um Eltern zu ärgern, sondern aus dem Bedürfnis nach Nähe und Sicherheit. Es ist ganz normal, dass Babys ab dem neunten Monat „fremdeln“ und ein sehr gutes Zeichen, dass es zu einer oder mehreren Personen bereits eine Bindung aufgebaut hat. Daher empfindet das Kind andere Menschen als fremd.

Um ein Bindungsdefizit oder -trauma zu vermeiden, ist es wichtig, die Bedürfnisse des Babys zu achten Eine sichere Bindung bietet einen sicheren Hafen, der vor Gefahren beschützt und eine sichere Basis bildet, um die Welt zu erforschen. Sicherheit ist eine sogenannte Blanko-Emotion: Ohne Sicherheit ist keine oder nur geringe Entwicklung möglich. Angst und Unsicherheit aktivieren Bindungsbedürfnisse wie Nähe, Beruhigung oder Trost. Werden diese nicht oder nur spärlich erwidert, kann ein Gefühl von Sicherheit auch nicht oder nur spärlich entwickelt werden. Aber auch ein Zuviel an Zuwendung ist ungesund: Die sogenannten Helikoptereltern, die ihr Kind überfluten, können ein „Nähe ist gefährlich“-Gefühl hervorrufen.

Die Bindungstheorie nach John Bowlby und Mary Ainsworth beschreibt, wie die Entwicklung von Kindern durch emotionale Beziehungen zu ihren Bezugspersonen geprägt ist. Dabei wird zwischen vier Bindungstypen unterschieden:
• Sichere Bindung
• Unsicher-vermeidende Bindung
• Unsicher-ambivalente Bindung
• Unsicher-desorganisierte Bindung

 

Diese Bindungstypen beschreiben, wie stark sich das Kind in neuen Situationen an seiner Bezugsperson orientiert (Bindungsverhalten) und wie eigenständig es seine Umwelt erkundet (Explorationsverhalten). Daraus lassen sich allgemeine Aussagen über die emotionale Beziehung zwischen Kindern und ihren Bezugspersonen ableiten.

Sichere Bindungen helfen dem Kind dabei, sich angstfrei zu entfalten und tragen deshalb positiv zur Entwicklung bei. Sicher gebundene Kinder reagieren mit Schreien oder Weinen auf die Abwesenheit der Mutter. Bei ihrer Rückkehr sind sie sichtlich erleichtert und wenden sich erst dann wieder dem Spielen zu. Bindungs– und Explorationsverhalten wechseln sich also ab.

Kinder mit diesem Bindungstyp nehmen ihre Bezugsperson als sichere Basis wahr, zu der sie immer wieder zurückkehren können, wenn sie Hilfe oder Trost brauchen, weil sie von Anfang an Verlässlichkeit erfahren haben. Durch die emotionale Stabilität ihrer Bezugsperson(en) können sie ihre Gefühle ausdrücken und erkunden ihre Umwelt freudig und interessiert. Das führt dazu, dass sie gute Lernerfolge erzielen können.

Tipps für Erziehende: Damit Kinder eine sichere Bindung aufbauen, ist es sehr wichtig, auf ihre körperliche und emotionalen Bedürfnisse einzugehen.

Unsicher-vermeidende gebundene Kinder zeigen kaum Reaktion, wenn ihre Mutter den Raum verlässt und spielen unvermindert weiter. Nach außen wirkt das Kind dabei selbstbewusst und ruhig. Tatsächlich kann man aber davon ausgehen, dass auch sie von ihrer Abwesenheit der gestresst werden, aber ihre Gefühle nicht zeigen, weil ihre Bezugsperson generell unzuverlässig ist und nicht auf seine Bedürfnisse eingeht. Deshalb suchen sie bei ihr auch keinen Trost und passen auf sich selbst auf. Nicht selten geht das mit einem negativen Selbstbild einher, weil das Kind die eigenen Gefühle als unwichtig verinnerlicht hat.

Tipps für Erziehende: Bereits in den ersten Lebensmonaten beginnen Kinder damit, ihr Verhalten an die Reaktionen ihres Umfelds anzupassen. Wenn einem Baby konstant das Gefühl gegeben wird, dass es eine Belastung für die Eltern ist, wird es aufhören, seine Gefühle auszudrücken.

Unsicher-ambivalent gebundene Kinder fallen vor allem dadurch auf, dass sie keine Balance zwischen Bindungs– und Explorationsverhalten zeigen. Von der Abwesenheit der Mutter sind sie stark verunsichert. Sie weinen nicht nur, sondern versuchen auch, sie am Weggehen zu hindern. Selbst wenn die Mutter wieder da ist, können sich diese Kinder nicht entspannen, sondern sind ängstlich, aggressiv oder suchen intensiv ihre Nähe.

Dies liegt ebenfalls in der Unzuverlässigkeit der Bezugsperson, die selbst ambivalentes Verhalten zeigt: Das Kind weiß nie, wie die Bezugsperson auf ihre Gefühlsäußerung reagieren wird. Das führt dazu, dass Kinder nicht nur von der stressigen Situation an sich, sondern auch von der Bezugsperson an sich verunsichert werden.

Tipps für Erziehende: Kinder brauchen eine Garantie, dass das Verhalten ihrer Bindungsperson konstant bleibt und sich nicht von einem Moment auf den anderen verändert. Sonst beginnen sie zu glauben, dass ihre eigenen Bedürfnisse weniger wichtig sind als die der anderen.

Unsicher-desorganisiert gebundene Kinder reagieren sehr widersprüchlich auf unbekannte Situationen. Sie wirken sowohl von der Abwesenheit als auch von der Rückkehr der Mutter überfordert. Das zeigt sich in ungewöhnlichen Verhaltensweisen wie beispielsweise Stimmungsschwankungen, Aggression oder dem Fehlen von Gefühlsäußerungen. Ihr Spielzeug beachten sie oft gar nicht.

Dieses Verhalten stammt wahrscheinlich davon, dass die Kinder bereits in den ersten Lebensmonaten traumatische Erlebnisse gemacht haben, die nicht selten direkt mit der Bezugsperson zusammenhängen. Sie wird dann nicht nur als Quelle von Sicherheit, sondern auch als Auslöser von Angst wahrgenommen. Werden die traumatischen Erfahrungen fortgesetzt und diese Ereignisse nicht verarbeitet, können sie sich als schwere psychische Probleme verfestigen.

Tipps für Erziehende: Zeigt das Kind ein solches Verhalten, sollte möglichst schnell professionelle Hilfe, zum Beispiel die eines Kinderpsychiaters oder -psychologen, in Anspruch genommen werden.

Ganz allgemein erkennt man an diesen Bindungstypen, wie gut Kinder gelernt haben, mit Stresssituationen umzugehen. Ihr Verhalten orientiert sich daran, ob sie eine sichere oder eine unsichere Bindung zu ihrer Bezugsperson aufgebaut haben. Welchen Bindungsstil Kinder entwickelt haben, kann die Kinderpsychologie schon ab dem ersten Lebensjahr feststellen.

 

Eine sichere Bindung hat viele positive Auswirkungen auf das Verhalten, die sich bis ins Erwachsenenalter bemerkbar machen:

• Vertrauen in sich selbst und die eigenen Fähigkeiten
• Lernbereitschaft
• Konstruktiver Umgang mit stressigen Situationen
• Kontaktfreudigkeit

Unsichere Bindungen dagegen können viele Probleme für das spätere Leben der Kinder auslösen:

• Psychische Labilität
• Geringes Selbstvertrauen und Misstrauen
• Schwierigkeiten bei der Gefühlsregulierung
• Probleme, soziale Kontakte zu knüpfen

Eine sichere Bindung ist also ganz entscheidend dafür, dass sich Kinder gesund und glücklich entwickeln können.

Aus Kindern werden Jugendliche und Erwachsene. Die Volksweisheit „was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmer mehr“ ist heute Gott sei Dank überholt. Aufgrund der Neuroplastizität können Entwicklungs- und Bindungsdefizit sehr wohl aufgeholt werden.

Erst seit 1987 wissen wir, dass auch die Paarbeziehung der Bindungsbeziehung unserer Eltern-Kind Beziehung entspricht (Hazan & Shaver, 1987). Das bedeutet, dass Erwachsene die gleichen Bindungsstile haben können wie Kinder.

Um eine tiefe Bindung in unserer Partnerschaft zu erreichen, brauchen wir die Fähigkeit der emotionalen Resonanz für

⇢ Zugänglichkeit – Kann ich dich erreichen?
Wir bleiben gegenüber unserem Partner auch dann offen, wenn wir Zweifel haben und uns unsicher fühlen. Auf diese Weise können wir die mangelnde Verbundenheit überwinden und uns auf seine Bindungssignale einstimmen.

⇢ Reaktionsfähigkeit: Kann ich darauf zählen, dass du emotional auf mich reagierst?
Wir fühlen uns in unseren Partner ein und zeigen ihm, dass seine Emotionen und insbesondere seine Bindungsbedürfnisse und Bindungsängste auf uns wirken. Wir akzeptieren die emotionalen Signale, die unser Partner an uns übermittelt und schenken ihm unsere ungeteilte Aufmerksamkeit. Außerdem senden wir selbst klare Signale der Bestätigung und der fürsorglichen Zuwendung aus, wenn unser Partner diese braucht. Solche sensiblen Reaktionen berühren uns emotional und beruhigen uns körperlich.

⇢ Engagement: Kann ich mir sicher sein, dass du mich schätzt und mir nahe bleiben wirst?
Mit emotionalem Engagement ist hier die ganz spezielle Art von Aufmerksamkeit gemeint, die wir nur einem Menschen schenken, den wir lieben. Wir schauen einen solchen Menschen länger an und berühren ihn häufiger. Partner bezeichnen dies häufig als emotionales Präsent-sein („da“ sein).

Die Bindungssprache ist hauptsächlich nonverbal, es sind die Blicke, der Tonfall, das Suchen der Nähe, das An-den- anderen-denken, die kleinen Gesten und Berührungen, Unterstützungen, und wie ist das bei Ihnen?

Bindung und Gesundheit

Ein gesunder Bindungsstil hat auch großen Einfluss auf unsere Gesundheit – eine warmherzige Partnerschaft ist unser Gesundheitselixier! Gleich zwei Harvard-Langzeitstudien bestätigen: Wir brauchen nur eines für ein erfülltes Leben – echte und tiefe Bindung zu anderen Menschen.
Die beiden Studien „The Grand Study“ und „The Glueck Study“ beschäftigten sich über 75 Jahre lang mit dieser einen Frage: Was macht den Menschen wirklich glücklich? Über 600 Personen aus jeweils einer Gruppe sozial gehobener und sozial schwacher Männer und Frauen wurden von den Forschern über Jahrzehnte begleitet, ihre Lebensgeschichten verfolgt, medizinische Akten gesammelt, Gehirne gescannt und vieles mehr. Nach der Analyse dieser unvorstellbaren Menge an komplexen Daten, gab es eine Kernerkenntnis: „Gute Beziehungen machen uns glücklicher und gesünder.“
Sicher sind soziale Beziehungen wichtig gegen Einsamkeit, aber die Qualität unserer tiefen Beziehungen ist das eigentliche Gesundheitselixier. Konfliktreiche zuneigungsarme Ehen zeigten sich als sehr schlecht für die Gesundheit, eigentlich schlechter, als eine Trennung.

Warmherzige Partnerschaften und eine auf Sicherheit aufgebaute Beziehung, sind hingegen gut für Gesundheit und Wohlbefinden. Ein gutes Leben baut auf einer guten Beziehung beziehungsweise Partnerschaft auf. Sorgen Sie für sich!


Aus CHI 03/22

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